Aktuell erleben wir eine gesellschaftliche Situation, die allgegenwärtig ist und Auswirkungen auf das Leben aller Menschen hat. Die pandemische Gefahr „Corona“ berührt jeden Bereich des Alltags, des Lebens der Einzelnen und des Zusammenlebens.

Aktivist*innen aus queeren Kontexten haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich Parallelen zum Aufkommen von AIDS in den 80er Jahren ziehen lassen. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, über Wissen aus der damaligen Situation, mit dem wir uns heute wieder befassen sollten, sprechen wir im Folgenden. Wir sind Klemens Ketelhut, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heidelberg School of Education und Martin Thiele, Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd. 

Die Idee dazu ist aus zwei verschiedenen Wurzeln entstanden. Zum einen hat Martin einen Artikel Zum (Spannungs-)Verhältnis von Aidshilfe- und Schwulenbewegung in dem Sammelband „Gender - Wissen - Vermittlung“ (erschienen bei SpringerVS 2019), den Klemens zusammen mit Dayana Lau von gender*bildet (MLU Halle-Wittenberg) herausgegeben hat, veröffentlicht. Zum anderen verbindet uns beide eine tiefe Freundschaft, die uns auch immer wieder zum gemeinsamen Nachdenken über bestimmte Phänomene bringt. Das Gespräch haben wir über drei Tage auf einem Pad geführt. 

Klemens: Als erste Frage würde ich gern wissen, wo siehst du, Martin, Zusammenhänge zwischen der heutigen Situation und der damaligen Situation, in der AIDS in die Welt gekommen ist?

Martin: Nun, das kommt ganz darauf an, aus welcher Perspektive darauf geschaut wird. Betrachtet man beide Pandemien aus einer rein epidemiologischen Sicht, haben sie zunächst einmal gar nicht so viel gemein, unterscheiden sich vor allem hinsichtlich Übertragbarkeit, Verbreitung und Sterblichkeit. HIV ist eine in erster Linie sexuell übertragbare Infektion, die bestimmte Hauptrisikogruppen betraf und nach wie vor betrifft. Eine AIDS-Diagnose bedeutete zum damaligen Zeitpunkt ein unweigerliches Todesurteil. Demgegenüber ist COVID-19 im Alltag sehr viel leichter übertragbar, bedroht daher potentiell jede_n, führt aber in den seltensten Fällen zum Tod. Entsprechend unterscheiden sich auch die Präventionsstrategien zur Unterbindung ihrer Ausbreitung maßgeblich voneinander. 

Wir haben es mit einer sozialen Krisensituation zu tun, auf die vielfach mit irrationaler Angst, sozialer Ausgrenzung und autoritären Sehnsüchten, aber auch mit zahlreichen lokalen Bemühungen solidarischer Unterstützung und Politik reagiert wird.

Ein soziologischer oder sozialpsychologischer Blick offenbart hingegen einige Gemeinsamkeiten hinsichtlich der gesellschaftlichen Situation sowie der individuellen und kollektiven Reaktionen auf die pandemische Bedrohung. Wir haben es mit sozialen Krisensituationen zu tun, auf die vielfach mit irrationaler Angst, sozialer Ausgrenzung und autoritären Sehnsüchten, aber auch mit zahlreichen lokalen Bemühungen solidarischer Unterstützung und Politik reagiert wird. In diesem Sinne lassen sich nicht wenige Parallelen zwischen der AIDS-Krise der 80er und 90er und der heutigen Corona-Krise herstellen.

Klemens: Bevor ich nochmal auf die Frage der gesellschaftlichen - oder vielleicht auch kollektiven - Reaktion auf eine als Krise wahrgenommene Situation eingehe, würde ich gern einen Moment bei den Unterschieden bleiben, da sie in meinen Augen auch einer Differenzierung bedürfen. Der zentrale Unterschied, das hast du angesprochen, liegt im Übertragungsweg und auch in der potentiellen Betroffenheit. HIV und AIDS haben in der ihrer Anfangszeit, so könnte man es vielleicht formulieren, dafür gesorgt, dass sich gesellschaftliche Ordnungsmuster hinsichtlich der Zuschreibung von Verantwortung und Schuld verschoben haben. HIV und AIDS betrafen die, deren gesellschaftliche Situation bereits prekär war: die Schwulen und die bisexuellen Männer, Drogengebraucher:innen, Sexarbeiter:innen. Der Wunsch, HIV und AIDS beherrschbar zu machen, gipfelte ja in Phantasien von Einkerkerung und Separation, sowohl institutionell als auch in Alltagspraxen, etwas, das mit COVID-19 kaum möglich sein wird. 

Martin: Ja, da bin ich ganz bei dir, das halte ich für einen ganz zentralen Unterschied auch im sozialen Umgang mit AIDS und dem mit COVID-19 - und in diesem Zusammenhang folglich mit den jeweils Betroffenen. Schaut man auf die Sozialgeschichte von Pandemien zurück, so zeigt sich, dass Krankheiten stets mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen werden, ihnen sowohl auf individueller Ebene als auch in gesellschaftlichen Diskursen ein tieferer Sinn zugesprochen wird. Die Schriftstellerin Susan Sontag beschreibt diese Prozesse eindrücklich in ihrem Werk Krankheit als Metapher. Während Pandemien verstärkt sich diese Tendenz durch die Atmosphäre gesamtgesellschaftlicher Infektionsängste, die oft kennzeichnend sind für pandemische Zeiten. 

Aktuell erleben wir eine Zunahme von Verschwörungstheorien, die ich als Versuche verstehe, etwas Unbeherrschbares beherrschbar zu machen, indem man versucht, Erklärungsmuster zu entwickeln und Instanzen zu finden, denen man Verantwortung oder Schuld daran zuschreiben kann.

Klemens: Der Versuch, einem unkontrollierbaren Phänomen wie einem potentiell tödlichen Erreger, der unsichtbar in der Luft sein kann, einen Sinn zu geben ist wohl einer, der Kontrolle ermöglichen soll. Aktuell erleben wir eine Zunahme von Verschwörungstheorien, die ich als Versuche verstehe, etwas Unbeherrschbares beherrschbar zu machen, indem man versucht, Erklärungsmuster zu entwickeln und Instanzen zu finden, denen man Verantwortung oder Schuld daran zuschreiben kann. Gibt es dazu in der Geschichte der Auseinandersetzung mit AIDS Parallelen?

Martin: In ihrem späteren an das vorhin erwähnte anschließende Buch Aids und seine Metaphern macht Sontag deutlich, dass AIDS so zu einem Schauplatz sozialer Grenzverhandlungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Moralischen und dem Unmoralischen, dem Akzeptablen und dem Unakzeptablen wurde. Vor allem rechtspolitische Kräfte haben damals die Gelegenheit genutzt, um Stimmung gegen all jene zu schüren, die nicht in ihr Bild einer aufgeräumten und reinlichen Gesellschaft passten. Schuldzuschreibungen an schwule und bisexuelle Männer, Drogengebraucher_innen und Sexarbeiter_innen hinsichtlich eines vermeintlich unmoralischen Lebensstils haben haben hierbei eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Aus den Opfern einer verheerenden Epidemie wurden so deren Täter gemacht. Statt sich solidarisch mit all denen zu zeigen, die besonders von AIDS bedroht und betroffen waren, forderten zahlreiche Politiker_innen lautstark und mit kaum verhohlener Abscheu repressive Maßnahmen gegen die Erkrankten sowie gegenüber Menschen aus den Hauptbetroffenengruppen. Der prominenteste Vertreter einer solchen autoritären Seuchenpolitik war der Staatssekretär im Bayrischen Innenministerium Peter Gauweiler. Dieser sprach von AIDS-Kranken als „Aussätzigen“ und forderte die "Zerschlagung der schwulen Infrastruktur", damit „niemand ungeschoren“ bleibe. Unterstützung erhielt er dabei im übrigens von seinem Parteikollegen Horst Seehofer, der sich dafür einsetzte, Menschen mit HIV und AIDS in "speziellen Heimen zu konzentrieren". Erschreckenderweise wurde diese repressive AIDS-Politik in Bayern später in Teilen umgesetzt. 

Klemens: Im Kontext von HIV und AIDS haben sich diese Vorgehensweisen nicht durchgesetzt - hier gab es ein Umdenken. Dennoch entstehen auch mit COVID19 neue Ausgrenzungsformen und Schuldzuschreibungen. 

Martin: Von solch einer ungeschönten Sündenbockmentalität und den damit einhergehenden moralinsauren Bestrafungsphantasien, wie sie im Zusammenhang mit AIDS aufgetaucht sind, sind wir heute hierzulande glücklicherweise weit entfernt. Es mag vielleicht zynisch klingen, aber womöglich können wir froh sein, dass die aktuelle gesundheitspolitische Krise nicht nur ungeliebte soziale Minderheiten betrifft, sondern auch die heterosexuelle, weiße und bürgerliche Mehrheitsgesellschaft bedroht. Moralisch aufgeladene und menschenfeindliche Auslassungen wie zu Zeiten der AIDS-Krise tauchen jedenfalls in den Debatten um COVID-19 so kaum auf. Aufgrund der leichteren Übertragbarkeit auch im Alltag stellt sich die Schuldfrage sehr viel weniger. Auf der anderen Seite müssen wir auch heute erleben, wie Ressentiments, Stigmatisierung und Marginalisierung in der gesellschaftlichen Atmosphäre panischer Angst gedeihen. Das bekamen vor allem zu Beginn der Coronapandemie zunächst Menschen zu spüren, denen eine asiatische, italienische oder französische Herkunft unterstellt wurde. Die Berichte über rassistische Anfeindungen und Übergriffe sind so zahlreich wie beschämend. Und gerade weil Gesundheit heute mehr denn je als individuelle Anforderung an uns alle herangetragen wird, verschwindet die Verantwortungsfrage im gesellschaftlichen Diskurs und im sozialen Miteinander dann doch nicht gänzlich. So mussten sich auch die ersten Corona-Infizierten nicht selten mit Schuldzuweisungen und sozialer Ausgrenzung auseinandersetzen. Ich möchte die Ähnlichkeiten zur AIDS-Krise gar nicht überstrapazieren, aber wir täten alle gut daran, wachsam zu sein, was solche gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft.

Die Brüche zwischen gesellschaftlichen Gruppen werden zunehmend sichtbarer. Deutlich wird daran, dass die Einschränkungen alle, aber nicht alle im gleichen Ausmaß betreffen und dass es jetzt eine zentrale Aufgabe ist, für bessere Teilhabebedingungen aller zu sorgen.

Klemens: Ich teile deinen Schluss: es ist im Moment wichtig, verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen genau zu beobachten. Zum einen denke ich dabei an das Verhältnis von Bürger:innen und Staat, das gerade herausgefordert wird: Grundrechte werden vorübergehend eingeschränkt, um die Gesellschaft und die Einzelnen zu schützen. Zum anderen, das hast du angesprochen, werden die Brüche zwischen gesellschaftlichen Gruppen zunehmend sichtbarer - die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, rassistische Diskurse, die weiter zunehmen, die schlechte Entlohnung vieler der "systemrelevanten" Berufe, die Verstärkung von Bildungsungleichheit durch die abrupte Schließung von Schulen, um nur ein paar Schlaglichter aufzurufen. 

Schaut man sich als ein mögliches Beispiel die Situation von Kindern und Jugendlichen an, kann man schnell erkennen, dass nicht alle (und das nicht nur in Phasen der geschlossenen Bildungseinrichtungen) Zugang zu digitalen Lernformaten haben, sei es, weil sie die entsprechenden Geräte nicht besitzen, sei es, weil die Wohn- und Lebensverhältnisse das nicht hergeben. Es macht einen Unterschied, ob man als Familie eine Zweiraumwohnung oder ein großes Haus mit Garten bewohnt. Und es macht auch einen Unterschied, ob beispielsweise Erwachsene in den Familien leben, die bei den schulischen Aufgaben helfen können und auch die Zeit dazu haben oder nicht. Betrachtet man die Gruppe der LGBTTIQ*-Kinder und -Jugendlichen wird zudem deutlich, dass sie besonderen Gefährdungen ausgesetzt sind. Viele queere Organisationen haben eindrücklich davon abgeraten, sich in der aktuellen Situation zuhause zu outen, weil die Gefahr familiärer Konflikte nicht abschätzbar ist. Damit fallen unter Umständen auch andere Supportsysteme weg: nicht alle können "unbeobachtet" mit einer Beratungsstelle chatten oder telefonieren oder virtuell bei einem Jugendgruppentreffen dabei sein usw. Damit potenzieren sich Risiken für eine sowieso schon ausnehmend vulnerable Gruppe noch mehr, die aber im allgemeinen Diskurs über Corona wenig Beachtung findet. Die Lebenssituation vieler dieser Menschen ist per se durch zusätzliche Belastungen gekennzeichnet, weil sie nicht den gesellschaftlichen Schutz erhalten, den sie dringend bräuchten - auch vor COVID-19 nicht. Deutlich wird daran, dass die Einschränkungen alle, aber nicht alle im gleichen Ausmaß betreffen und dass es jetzt eine zentrale Aufgabe ist, für bessere Teilhabebedingungen aller zu sorgen. Damit ist aber auch die Frage zu stellen, wie das Verhältnis zwischen Grundrechten und ihrer notwendigen Einschränkung so zu denken sein könnte, dass diese Rechte garantiert bleiben.

Martin: Ich finde ja, das ist eine ganz entscheidende Frage, die es auch oder gerade in Krisenzeiten zu diskutieren gilt. Gänzlich außer Frage steht meines Erachtens, dass ordnungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung zur Ausbreitung von Covid-19 absolut notwendig waren, ja sogar in dieser drastischen Ausprägung der Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte, wie wir sie in den letzten Wochen erleben. Der Aufruf zur Kontaktminimierung, Maskenpflichten in bestimmten Räumen und das Verbot größerer Veranstaltungen leuchten den allermeisten Menschen auch ohne große epidemiologische Vorkenntnis vermutlich unmittelbar ein. Das sind sachlich begründete, damit legitime und leicht zu befolgende Vorgaben für das Leben mit dem Virus. 

Besorgniserregend stimmt es mich jedoch, wenn die Pandemie zum Vorwand genommen wird, um ganz klare Rechtsbrüche zu begehen oder Bürgerrechte gleich in Gänze auszuhebeln. Ich denke da zum Beispiel an die Verletzung des Datenschutzes und Patient:innengeheimnisses, wenn in einigen Bundesländern namentliche Meldungen von Erkrankten an die Sicherheitsbehörden erfolgen, über Bewegungstracking per App diskutiert oder die Möglichkeit eines Immunitätspasses ins Spiel gebracht wird. Bedenklich finde ich auch die pauschale Aussetzung der Versammlungsfreiheit, wie wir sie an vielen Orten erleben, wenn politische Demonstrationen auch dann verboten werden, wenn Sie unter Einhaltung der Schutz- und Abstandsregelungen erfolgen. Immer wieder hört man zudem vom teils unverhältnismäßigen und willkürlichen Vorgehen der Sicherheitsbehörden auch gegenüber kleineren Regelverstößen, in dem wohl Der Wille zum Strafen durchscheint, den der Sozialanthropologe Didier Fassin auch und vor allem für liberale Gesellschaften beschreibt. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die politischen Entscheidungsträger:innen in den letzten Wochen unter erheblichem sozialen und zeitlichen Druck Maßnahmen auf den Weg bringen mussten, doch ein solches Vorgehen ist weder epidemiologisch noch unter demokratischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Hier sind Zivilgesellschaft und eine kritische Öffentlichkeit gefragt.

Klemens: Wäre es also hilfreich, sich einen Gesundheitsbegriff zunutze zu machen, der als ein politischer verstanden werden kann? Damit könnte man auch noch einmal besser die politische Dimension des Privaten begreifen. 

Dieses kollektive Vertrauen in die Wissenschaft ist bemerkenswert. Doch zugleich birgt es auch die Gefahr einer Entpolitisierung der Debatte und der Nichtbeachtung bedenklicher sozialpolitischer Entwicklungen, wenn wir ausschließlich virologische Erwägungen zum Maßstab unseres Handelns erheben.

Martin: Auf jeden Fall. Die Weltgesundheitsorganisation arbeitet nicht ohne Grund seit Jahrzehnten mit einem solchen Verständnis von Gesundheit. Ähnlich wie in der AIDS-Krise erleben wir heute in aller Deutlichkeit, dass Gesundheit eben nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein gesellschaftliches, ein politisches Phänomen ist. Der Coronavirus mag egalitär sein, insofern er keine Unterscheidung zwischen Menschen macht, das Risiko, sich zu infizieren, und auch die soziale, finanzielle und psychische Betroffenheit von den aktuellen politischen Maßnahmen gegen die Pandemie ist hingegen sozialstrukturell unterschiedlich verteilt. Einige eindrückliche Beispiele für das Wirken der Maßnahmen auf Menschen in marginalisierten und prekären Verhältnissen hast du ja bereits eindrücklich beschrieben.

In den letzten Wochen konnten wir jedenfalls beobachten, wie die allermeisten Menschen die Mahnungen von Seiten der Virologen und Epidemiologen ernst genommen haben und entsprechend den Regelungen des Social Distancing gefolgt sind. Dieses kollektive Vertrauen in die Wissenschaft finde ich ganz bemerkenswert. Doch zugleich birgt es auch die Gefahr einer Entpolitisierung der Debatte und der Nichtbeachtung bedenklicher sozialpolitischer Entwicklungen, wenn wir ausschließlich virologische Erwägungen zum Maßstab unseres Handelns erheben. Es gibt eben Fragen, die nur politisch beantwortet werden können. Auch in einer pandemischen Krisensituation behalten Bürgerrechte ihre Gültigkeit, darf sich Politik nicht auf Biopolitik beschränken und sind politische Entscheidungen keineswegs alternativlos. Umso umfangreicher die politischen Einschnitte in die Freiheitsrechte und die direkten Auswirkungen für die Bürger*innen in ihrem Lebensvollzug, desto ausgeprägter muss eine kritische Diskussion über Maßnahmen und ihre gesellschaftspolitischen Folgen stattfinden.

Klemens: Für mich wäre ein nächster wichtiger Punkt die Frage nach Solidaritäten. Solidarisch zu sein ist eine Aufforderung, der wir uns im Moment alle ausgesetzt sehen, sei es, dass das Tragen von Masken als solidarischer Akt eingefordert wird, sei es, dass wir Community-Einrichtungen unterstützen sollen. Die hohe moralische Dignität, die dieser Begriff in sich trägt, fordert heraus, gerade jetzt, wo die Krise sich in eine Art Latenz transformiert. Dabei ist ja nahezu jede Handlung - auch die utilitaristischen Forderungen nach Triage etc. - mit dem Verweis auf Solidarität verbunden. Es scheint mir also eher eine Frage zu sein, welche Form von Gerechtigkeitsvorstellung hinter diesen Aufforderungen stehen. Können wir hier etwas von den Solidarisierungsprozessen, die mit HIV und AIDS entstanden sind - und ja entstehen mussten - "lernen"?

Martin: Wenn ich derartige Vorschläge zur Triage höre, wie sie beispielsweise neulich erst von Boris Palmer geäußert wurden, fühle ich mich unweigerlich an die Situation und an den rechtskonservativen AIDS-Diskurs während der frühen 1980er Jahre erinnert. AIDS war lange Zeit die Krankheit der Anderen. Daher sahen sich die Betroffenen der AIDS-Epidemie einer Gesellschaft gegenüber, die ihrem massenhaften Sterben schulterzuckend zusah oder dieses sogar freudig begrüßte. Die damalige Bundesregierung nahm AIDS zunächst nicht als ein gesundheitspolitisches Problem wahr und blieb daher lange Zeit untätig. Das Leben der Betroffenen wurde also als entbehrlich betrachtet. Erst als klar wurde, dass HIV nicht nur gesellschaftlich ungeliebte Minderheiten trifft und befürchtet wurde, AIDS können von den Rändern der Gesellschaft in ihre Mitte vordringen, sah man sich zum Handeln gezwungen. 

Die dramatischen Situationen auf Lesbos, die sich in den letzten Wochen unter den Vorzeichen von Corona noch einmal zugespitzt haben, oder die Situation von Menschen, die hier bei uns in Sammelunterkünften leben, verweisen ebenfalls darauf, dass Leben sehr unterschiedlich bewertet werden.

Wenn jetzt darüber diskutiert wird, ob wir alte Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen zum Wohle der Wirtschaft und des Rests der Bevölkerung dem Risiko einer tödlichen Infektion aussetzen wollen, erkenne ich da ähnliche diskursive Muster, in denen bestimmten Leben weniger Wert beigemessen wird als anderen. Die Philosophin Judith Butler spricht in diesem Zusammenhang von "gefährdeten Leben", die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Existenz im gesellschaftlichen und politischen Diskurs übergangen und ihr letztlicher Verlust nicht einmal betrauert wird. Einige Menschen potentiell dem Tod zu überlassen, damit alle anderen keine Einschränkungen in Kauf nehmen müssen, mag im utilitaristischen Verständnis eine sehr verdrehte Form der Solidarität oder Gerechtigkeit sein, aber ganz sicher nicht im Sinne einer demokratischen Gesellschaft. Hier tritt nicht nur ein nahezu unerträglich zynisches, sondern durch und durch antimodernes Denken auf den Plan, auf das mit entschiedenem politischen Widerspruch reagiert werden muss. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Werte unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft in der Pandemie durch derartig reaktionäre Einlassungen verloren gehen.

Klemens: Ich finde es wichtig, an dieser Stelle auch die Situation von Menschen, die auf der Flucht sind oder waren, zu bedenken. Die dramatischen Situationen zum Beispiel auf Lesbos, die sich in den letzten Wochen unter den Vorzeichen von Corona noch einmal zugespitzt haben, oder die Situation von Menschen, die hier bei uns in Sammelunterkünften leben, verweisen ebenfalls darauf, dass Leben sehr unterschiedlich bewertet werden. Butler hat den Begriff der gefährdeten Leben in ihrem Buch Raster des Krieges" (Orig.: Frames of War. When is Life Grievable?) entwickelt, in dem es um die zentrale Frage geht, wie diese Raster die Unterscheidung zwischen verschiedenen Leben und der Beurteilung ihres Werts affektiv aufladen und ihnen damit eine andere Rechtfertigung geben, die, beispielsweise auch im Namen der Demokratie oder der Menschenrechte vorgetragen und erlebbar werden. Diese Perspektive bietet in meinen Augen eine gute Möglichkeit für das Verständnis der globalen Situation als auch der der innergesellschaftlichen sozialen Ungleichheit aber auch dafür, wie Solidarisierungen möglich werden. Das lässt sich am Beispiel der Organisierung solidarischer Bewegungen im Kontext von AIDS auch gut erkennen. 

Martin: Aber ja! Ich glaube tatsächlich, dass wir in diesem Zusammenhang aus den solidarischen Bewegungen der AIDS-Krise einiges lernen können. Dass beispielsweise schwule Männer damals bei der Bewältigung der AIDS-Epidemie zunächst auf sich allein gestellt waren, zog einen immensen Solidarisierungseffekt innerhalb der Schwulenszene nach sich. Die Community kam zusammen, um einander im wortwörtlichen Kampf ums Überleben beizustehen. Hierzulande entstand aus dem zunächst informellen Austausch über Krankheit und Schutzmöglichkeiten die organisierte Aidshilfebewegung, die sich der Prävention, Begleitung und Versorgung annahm. Zudem bildeten sich AIDS-politische und aktivistische Zusammenschlüsse unter dem Label ACT UP, die sich durch öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen Ausgrenzung von Minderheiten, für bezahlbare Medikation und für eine angemessene gesundheitliche Versorgung der Betroffenen einsetzten. Die Solidarität machte jedoch nicht bei der eigenen Betroffenheit halt, war keine bloße Identitätspolitik. Obwohl die Bewegungen zu großen Teilen von schwulen Männern getragen wurden, übten sie den Schulterschluss mit den anderen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, die hauptsächlich von AIDS bedroht und betroffen waren. Schwule und bisexuelle Männer, Drogengebraucher*innen, Sexarbeiter*innen, Menschen mit HIV und AIDS standen im sogenannten AIDS-Krieg Seite an Seite gegen das Virus und seine gesellschaftlichen Alliierten. Es war diese gelebte, grenzenlose Solidarität, die sich an den Schwächsten orientierte und alle mitdachte, die ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich hierzulande eine menschenrechtsorientierte AIDS-Politik gegen einen repressiven Kurs durchsetzen konnte.

Klemens: Gibt es aktuell auch Beispiele von solidarischen Bündnispolitiken, die diesem Muster folgen oder zumindest ähneln? 

Martin: Solche solidarischen Bemühungen können wir in der aktuellen Situation auch wieder verstärkt erleben. Du hast die Situation Geflüchteter angesprochen, in der das ganz besonders notwendig scheint und zum Tragen kommt. So engagieren sich in Halle und Sachsen-Anhalt gerade zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen wie die MediNetzeSolidarity City oder Halle gegen Rechts - um nur einige zu nennen - gegen die unerträglichen hygienischen und gesundheitlichen Verhältnisse in der ZASt in Halberstadt und setzen sich für eine dezentrale Unterbringung ein. Dabei sprechen sie nicht über oder für die Bewohner_innen, sondern stehen diesen in ihrem politischen Kampf solidarisch zur Seite. Ebenfalls bemerkenswert finde ich Initiativen wie den Corona Direct Support Halle/Saale, bei dem sich eine Gruppe von Privatpersonen zusammengefunden hat, um gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu unterstützen, die durch die Pandemie und die Maßnahmen in finanzielle Engpässe geraten sind.

Die Kehrseite der Zusammenarbeit mit dem Staat besteht darin, dass der Handlungsspielraum sozialer Bewegungen unweigerlich in eine größere Nähe von Kontrolle gerät. Es geht also nicht mehr um die Veränderung der Gesellschaft, sondern zunehmend um die Veränderung in der Gesellschaft.

Klemens: Bevor wir uns noch einmal etwas genauer mit der Frage befassen, wie es aktuell möglich sein könnte, eine gesellschaftliche Veränderung hin zu mehr Repression und Autoritarismus zu verstehen würde ich gern auf einen Punkt eingehen, der mir im Lichte deiner Ausführungen wichtig geworden ist. Die Solidarisierung im Kontext von AIDS und ihre Institutionalisierung im Rahmen von Aidshilfe könnte man ja auch anders lesen: eine grundlegende Schwierigkeit, die (soziale) Bewegungen haben, ist, dass sie an einem bestimmten Punkt eine Entscheidung für oder gegen eine enge Kooperation mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen treffen müssen. Für diese Kooperationen spricht meistens, dass Finanzierungen über öffentliche Gelder notwendig werden, wenn die sich entwickelnden Organisationen handlungsfähig bleiben wollen. Ich habe dieses Spannungsfeld an anderer Stelle als Problem von Pädagogisierungsprozessen vorgestellt, aber ich glaube, dass es auf verschiedenen Ebenen beobachtbar ist. Die Kehrseite der Zusammenarbeit besteht darin, dass der Handlungsspielraum sozialer Bewegungen dadurch unweigerlich in eine größere Nähe von Kontrolle gerät. Es geht also nicht mehr um die Veränderung der Gesellschaft, sondern zunehmend um die Veränderung in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund würde mich interessieren, ob du diese These hinsichtlich der Aidshilfe-Bewegung teilst und wie diese auf die Schwulenbewegungen, mit denen sie ja personell eng verbunden waren, zurückgewirkt hat. 

Martin: Für die Aidshilfen bedeutete die Integration in die staatlichen Präventionsstrategien einen Institutionalisierungs- und Professionalisierungsschub, der nicht nur ein sehr viel erfolgreicheres Vorgehen gegen die Epidemie ermöglichte, sondern sich ebenso auf die Schwulenbewegung, ihre Institutionen und politischen Bemühungen übertrug. Ein großer Teil der heutigen schwulen und queeren Infrastruktur entstand in dieser Zeit mit Unterstützung aus der öffentlichen Hand. Nichts desto trotz ist es, da stimme ich dir absolut zu, unbestreitbar, dass sich die Aidshilfe- und die mit ihr verbundene Schwulenbewegung in diesem Zusammenhang in ein institutionelles Abhängigkeits- und Disziplinierungsverhältnis begeben haben. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die ehemals radikale Befreiungsbewegung schrittweise einer bürokratischen Bürgerrechtsbewegung wich, die vor allem durch eine eher unauffällige und gemäßigte Real- und Reformpolitik geprägt war. Einige Bewegungsschwule wie Stefan Edgeton verkündeten daher letztlich: „Die schwule Bewegung ist tot, es lebe das homosexuelle Berufsbeamtentum!“ Insofern die Bewegung ihre emanzipatorische Sprengkraft damit weitgehend einbüßte, ist da ganz klar etwas dran. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass es letztlich der nun ausgeprägteren Zusammenarbeit mit dem bis dahin verhassten und strikt gemiedenen Staat zu verdanken ist, dass die schwulen Interessenvertretungen politischen Einfluss, soziale Handlungsfähigkeit und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhielten wie nie zuvor. Die AIDS-Krise war in diesem Zusammenhang ganz klar ein Katalysator für die Anerkennung und Gleichstellung gleichgeschlechtlicher L(i)ebensweisen.

Die autoritären Sehnsüchte, die vor dem Hintergrund von Corona nur offensichtlicher werden, sind kein ganz neues Phänomen. Wir erleben ja nun bereits seit einigen Jahren das scheinbar unaufhaltsame Erstarken rechtsnationaler, völkischer und autoritativer Kräfte in Politik und Gesellschaft.

Klemens: Wir befinden uns hier in einem tatsächlich komplexen Spannungsverhältnis, das meist mit dem Gegensatz von Emanzipation und Assimilation gefasst wird. Gleichzeitig könnte man aber, nachdem was du ausgeführt hast, sagen, dass durch die mehr oder minder unumgängliche Kooperation zwischen Schwulenbewegungen, Aidshilfe und Staat auch Rechte für (zunächst) Bisexuelle, Lesben und Schwule in einem vermutlich bis dahin nicht denkbaren Ausmaß erreicht wurden, freilich unter der Maßgabe einer Neuausrichtung der Forderungen in bürgerrechtliche Ziele. Das prominenteste ist sicherlich die lange geforderte und dann auch umgesetzte Eheöffnung für homosexuelle Paare, die freilich keine Ehe für alle sondern nur für einige ist. 

Und vielleicht steckt dahinter auch eine Denkfigur, die für meine nächste Frage eine Bedeutung hat. Der Preis für Normalisierung ist die Integration in bestehende gesellschaftliche Ordnungsmuster, die ich als graduell wandelbar aber insgesamt eher beharrlich begreifen würde. In der jetzigen Situation erleben wir zunehmend Veränderungen hin zu einem Wunsch nach autoritären Strukturen und einer eher repressiven Politik, die für viele Menschen unserer Gesellschaft offenbar nicht wirklich problematisch zu sein scheinen. Welche Bedeutung könnte so eine Veränderung für LGBTTIQ*-Menschen provozieren? Und was wären mögliche Ansatzpunkte für ein anderes Vorgehen, die wir aus der bisherigen Bewegungsgeschichte mitbringen und wie könnten wir die fruchtbar machen?

Martin: Die autoritären Sehnsüchte, die vor dem Hintergrund der aktuellen Situation nur offensichtlicher werden, sind kein ganz neues Phänomen. Wir erleben ja nicht nur hierzulande, sondern weltweit nun bereits seit einigen Jahren das scheinbar unaufhaltsame Erstarken rechtsnationaler, völkischer und autoritativer Kräfte in Politik und Gesellschaft. Diese bedrohen ganz unverhohlen das Leben queerer Menschen. Bewegungen wie die selbsternannten „besorgten Eltern“ oder Parteien wie die vermeintliche „Alternative für Deutschland“ hetzen mit klangvollen Kampfbegriffen wie „Frühsexualisierung“, „Gender-Gaga“ oder „Regenbogen-Trallala“ gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten und gegen die Vielfalt der Gesellschaft, die sie in ihrer Einfalt offenbar weder verstehen noch ertragen können. Daher ist bereits deutlich zu spüren, dass das gesellschaftliche Klima für LSBTIQ hierzulande zunehmend rauer und unwirtlicher werden wird. Da die AfD mittlerweile zudem in zahlreichen Parlamenten vertreten ist und damit auch über die Mittelvergabe öffentlicher Gelder mitentscheidet, wächst natürlich auch die Gefahr für die queeren Strukturen, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurden. 

Klemens: Diese Beobachtung teile ich und ich teile auch deine Besorgnis, die damit einhergeht. Ich interpretiere das als Versuch, gesellschaftliche Ordnungen, die letztlich auch durch die Pluralisierung von Lebensentwürfen herausgefordert wurden und werden, in einem restaurativen Sinne zu stärken. Gerade Geschlecht ist ja einer der fundamentalsten gesellschaftlichen Platzanweiser, darauf hat die Soziologin Gudrun Axeli-Knapp bereits Ende der 1980er Jahre hingewiesen und entsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass Geschlechterverhältnisse und Sexualitäten für diese Bestrebungen eine so zentrale Rolle spielen. 

Einerseits befinden sich die Umfragewerte der AfD sich im Tiefflug, andererseits kann die nationale Mobilisierung zum Aufleben nationaler Affekte mit all den dazugehörigen autoritären Konsequenzen beitragen.

Martin: Inwiefern die aktuelle Coronapandemie auf diese Entwicklung Einfluss nehmen wird, ist gerade noch nicht absehbar. Zumindest die Richtung der Entwicklung ist unklar. Derzeit sind sowohl Anzeichen für eine Schwächung als auch eine Stärkung nationalistischer und autoritärer Denkmuster und Politiken erkennbar. Zuversichtlich stimmt mich in diesem Zusammenhang, dass sich die Umfragewerte der AfD gerade im Tiefflug befinden, weil vielen Menschen nun vor Augen geführt wird, dass rechtsradikale Parteien ganz offensichtlich keine Lösungen für gesellschaftliche Problemlagen anzubieten haben. Verschwörungstheorien finden beim überwiegenden Teil der Bevölkerung kaum Gehör, das Vertrauen in wissenschaftliche Fakten scheint hingegen groß. Wenn sich dieser Trend fortsetzen sollte, wäre dies für queere Personen und Bewegungen sicherlich eine Entlastung. Auf der anderen Seite - und davor warnte unlängst der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie in einem Kommentar mit dem Titel Missklänge - kann vor allem die nationale Mobilisierung, die von Seiten der Politik gerade permanent ausgerufen wird, zum Aufleben nationaler Affekte mit all den dazugehörigen autoritären Konsequenzen beitragen. Dass dies bereits Wirkungen zeigt, erkennen wir daran, dass sich Bürger_innen immer wieder dazu berufen fühlen, im Interesse eines imaginierten Staats- oder Volkskörpers auf die Regelverstöße anderer mit sozialer Sanktionierung oder gar Denunziation bei den Sicherheitsbehörden zu reagieren. Das sind Verhaltensweisen, die ganz typisch sind für autoritäre Gesellschaften nach traditionellem Muster, in denen kollektive Bedürfnisse über denen der Einzelnen stehen. Schaut man nun in der Geschichte zurück oder in andere Teile der Welt wie beispielsweise den Iran oder Russland, sind es eben jene Gesellschaftsmodelle, in denen queeren Menschen keineswegs mit Akzeptanz, sondern mit Ablehnung oder gar Verfolgung begegnet wird.

Gleichzeitig verweisen aktuell beobachtbare Entwicklungen darauf, dass es wieder neue Querfrontbestrebungen gibt, so, wie es bereits 2014 mit den so genannten Montagsdemonstrationen war. Diese wurden ja schnell zu einer Art Plattform für sehr problematische Artikulationen und haben sicherlich zu der Entwicklung der AfD, wie wir sie heute kennen, beigetragen.

Klemens: Damit hast du auch noch einmal ein Erklärungsmuster für utilitaristische Argumentationen vorgestellt, die ja ebenfalls kollektivistisch abwägen und argumentieren. Es scheint es mir sinnvoll zu sein, das in einem Zusammenhang mit den Restaurationsversuchen gesellschaftlicher Ordnung zu denken. Gehen Forderungen nach der Möglichkeit, sich selbst sexuell oder geschlechtlich zu erleben und zu positionieren eher in Richtung einer auf individuelle Lebensentwürfe orientierte Idee von Gesellschaft, stellen kollektivistische Zugänge eher Gemeinschaftsvorstellungen in den Vordergrund, die notwendigerweise durch autoritäre Handlungsmuster abgestützt werden müssen, da sie an ihren Grenzen viel weniger Durchlässigkeit akzeptieren (können). Damit will ich nicht sagen, dass es keine kollektiven Führungswünsche in einer offeneren Gesellschaft gibt, auf diese Prozesse hat Ulrich Bröckling in seinem Buch Gute Hirten führen sanft auch hingewiesen. Gerade die Pädagogik hat an dieser Stelle noch einen erheblichen Bedarf an disziplinärer Selbstaufklärung. 

Gleichzeitig können Entwicklungen, die aktuell beobachtbar sind, wie beispielsweise eine Demonstration in Berlin oder Stuttgart gegen "Corona", darauf verweisen, dass es wieder neue Querfrontbestrebungen gibt, so, wie es bereits 2014 mit den so genannten Montagsdemonstrationen war. Diese wurden ja schnell zu einer Art Plattform für sehr problematische Artikulationen und haben sicherlich zu der Entwicklung der AfD, wie wir sie heute kennen, beigetragen. 

Martin: Diese Entwicklungen zeigen uns, dass wir uns als Community nicht einfach mit den politischen Erfolgen der letzten Jahrzehnte zufriedengeben können. Im denkbar schlimmsten Fall müssen wir diese bisher als sicher geglaubten Errungenschaften sogar gegen eventuelle Rückschritte verteidigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Ansatzpunkte aus der Bewegungsgeschichte hervorheben. Der erste betrifft die bündnispolitische Perspektive, die ich bereits zuvor im Kontext des AIDS-Aktivismus angesprochen habe. Neben ACT UP gibt es zudem zahlreiche weitere Beispiele für solidarischer Zusammenschlüsse, die queere Bewegungen in der Vergangenheit geschlossen haben und schließen mussten, um Anerkennung für ihre Lebensentwürfe zu erstreiten. Ich denke hierbei an die Aufstände im New Yorker Stonewall Inn 1969, bei denen sich schwule, bisexuelle, lesbische und trans Personen, Queers of Color, Sexarbeiter_innen, obdachlose wie bürgerliche Queers zusammengetan haben, um sich gegen die zum Alltag gewordene staatliche Repression zur Wehr zu setzen. Mir kommen aber auch sofort die lesbischen und schwulen Aktivist_innen der LGSM (Lesbians and Gays Support the Miners) in den Sinn, die während des britischen Bergarbeiterstreiks Mitte der 80er Jahre den Arbeiterkampf der Gewerkschaften, der Streikenden und deren Familien gegen die drohende Schließung und Privatisierung der letzten Zechen unterstützen. Die Stärke queerer Bewegungen lag also immer in ihren von Solidarität getragene Bündnispolitiken, um sich für die eigenen und die Anliegen anderer sozialer Bewegungen einzusetzen. Was man darüber hinaus im Besonderen von ACT UP lernen kann - und das ist der zweite Anknüpfungspunkt, den ich anbieten möchte - ist die Umwandlung von Angst, Ohnmacht und Frustration in produktive Wut und kreativen Aktivismus, die vor allem im Motto: „Schweigen bedeutet Tod; Handeln bedeutet Leben“ zum Ausdruck kam. Wir sollten ebenfalls wieder wütender sein auf eine Gesellschaft, in der wir, unsere Identitäten und unsere Leben nach wie vor nicht vollends akzeptiert werden, und entschieden kämpferischer, vielleicht sogar unversöhnlicher gegenüber den Verhältnissen und den Politiken, die sie erhalten, auftreten. Die beste Antwort auf das Erstarken rechter, autoritärer und antiqueerer Diskurse und Bewegungen, so glaube ich daher, ist auch heute eine solch radikale politische Bewegung aller sexuell Perversen und geschlechtlichen Dissidenten, die solidarische Bündnisse mit anderen gesellschaftlich Marginalisierten und deren emanzipatorischen Bewegungen schmiedet, um voneinander zu lernen und einander beizustehen.

Solidarität bedeutet eben nicht nur Fürsorge und Rücksicht. Sie ist ein genuin politisches Handeln und erlebt ihren wahren Ausdruck immer im gemeinsamen Aktivismus und in Protestbewegungen gegen all die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Menschen leiden.

Klemens: ACT UP ist ein besonders interessantes Phänomen, dazu fallen mir gleich zwei wichtige Dokumentationsfilme ein: United in Anger und How to survive a Plague. Ich denke, dass es sehr gewinnbringend ist, sich damit zu beschäftigen, denn neben Wut und Aktivismus brauchen wir vielleicht auch wieder mehr Wissen über gesellschaftliche Strukturen und über die Geschichte, in der wir unweigerlich stehen, wenn wir über Aktivismus sprechen. 

Martin: Absolut! Und ja, das sind ganz außergewöhnliche Dokumentationen. In diesem Zusammenhang kommt mir noch der Film 120 Beats Per Minute in den Sinn. Dabei handelt es sich zwar nicht um einen Dokumentarfilm, er basiert aber auf den Erfahrungen des Regisseurs Robin Campillo, der während der AIDS-Krise bei ACT UP in Paris engagiert war. Dem Film gelingt es beeindruckend, die Verwobenheit des Privaten und des Politischen, die für den AIDS-Aktivismus ganz existentiell war, da viele Aktivist_innen eben tatsächlich um ihr Überleben kämpfen mussten, narrativ und cinematographisch auf die Leinwand zu bringen. Solidarität - und das bringt der Film für mich so klar zum Ausdruck wie kaum ein anderes filmisches Erzeugnis - bedeutet daher eben nicht nur Fürsorge und Rücksichtnahme, wie es uns heute immer wieder als vermeintliche Solidarität verkauft wird. Sie ist vielmehr ein genuin politisches Handeln und findet ihren wahren Ausdruck immer im gemeinsamen Aktivismus und in Protestbewegungen gegen all die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen Menschen zu leiden haben.

Klemens: Bevor ich auf die Frage der Bündnisse noch einmal eingehe möchte ich eine Beobachtung formulieren, die das, was du beschreibst, nicht relativieren soll, die in meinen Augen aber für ein Verständnis des "ganzen Bildes" unabdingbar ist. Wir diskutieren hier ja gerade queeres Leben und nationalistische, autoritäre Bestrebungen als sich gegenüberstehend. Dass dem nicht so ist, zeigen Positionierungen von queeren Menschen, die bspw. in der AfD aktiv sind oder sich als "freie Medienmacher" verstehen, also eine Tendenz zu "alternativen Fakten" besitzen und die versuchen, Minderheitenrechte gegeneinander auszuspielen - meistens geht es dabei um eine angebliche Gefahr, die von Menschen islamischen Glaubens ausgehe und vor denen wahlweise "unsere" Frauen oder eben auch "unsere" LGBT-Personen geschützt werden müssten. Das verweist ja auf die Komplexität des Phänomens, dass es eben keine "natürlichen" oder sich automatisch einstellenden Bündnisse gibt. Daher wäre es für mich nochmal spannend, wie wir heute Bündnispolitiken und das Handeln in Bündnissen denken könnten. 

Das Aushalten von Unterschiedlichkeit ist zwar manchmal anstrengend, doch auch die wesentliche Stärke eines queeren, solidarischen Aktivismus: Voneinander lernen, miteinander streiten, Seite an Seite kämpfen, sich gegenseitig Mut machen, füreinander einstehen - was könnte denn erstrebenswerter sein?

Martin: In diesem Sinne tut es Not, dass wir uns von einem rein identitätspolitischen Verständnis von Bündnispolitiken lösen. ACT UP wurde beispielsweise von Schwulen, Lesben, trans Personen, Sexarbeiter_innen, Drogengebraucher_innen und (heterosexuellen) Menschen aus dem Gesundheitssystem getragen, um nur einige aufzuzählen. Es kamen also Menschen zusammen, die außerhalb des Aktivismus für gewöhnlich kaum miteinander zu tun hatten, sich im Alltag unter Umständen nie begegneten. Verbunden waren sie sich eben nicht durch eine geteilte Identität, nicht einmal zwingend durch geteilte Lebenssituationen oder politische Auffassungen, sondern über ein allen gemeinsames politisches Anliegen. Die notwendige ethische Grundlage einer solchen Koalition ist freilich die Anerkennung von Pluralität und Differenzen sowohl innerhalb der politischen Organisation als auch in der Gesellschaft als solcher. Dass dies nicht immer einfach ist, will ich aber auch nicht leugnen. Ich habe nun die ganze Zeit großspurig von der großartigen Vergemeinschaftung über politische Kämpfe erzählt. Fragt man nun aber Menschen, die anders als ich damals tatsächlich bei ACT UP organisiert waren, werden sie davon berichten, dass es im Gegensatz zur Wahrnehmung von außen permanent zu Spannungen und Konflikten zwischen den verschiedenen Aktivist_innen kam. Das Aushalten von Unterschiedlichkeit ist also auch manchmal einfach anstrengend, doch ich möchte trotzdem dafür plädieren, diese als die wesentliche Stärke eines solchen queeren, solidarischen Aktivismus zu begreifen: Voneinander lernen, miteinander streiten, Seite an Seite kämpfen, sich gegenseitig Mut machen, füreinander einstehen - was könnte es denn Erstrebenswerteres geben?